H31

In einem rechten Winkel, so wie es die deutsche Straßenverkehrsordnung vorsieht, überquere ich die vierspurige Straße, um an einem der kleinen Tische des neuen, thailändischen Restaurants Platz zu nehmen. Getränkekarte, Kontaktformular – aber keine Speisekarte. Das Kontaktformular fülle ich sorgfältig aus und schaue dabei ungeduldig zu den Nachbartischen. Ich meine, eine Speisekarte auf Tisch 4 ausfindig gemacht zu haben. Ich wechsele zu Tisch 4, verwerfe also eigenmächtig meine erste, unglückliche Platzwahl und taumle schwitzend durch sorgfältig platzierte Tischreihen, hantiere mit akkurat platzierten Getränkekarten, Aktionskarten und weiteren Kontaktformularen, die ich ebenso aufmerksam wie das erste ausfülle, sobald ich einen neuen Tisch erobert habe.

In einer Getränkekarte ertaste ich schließlich ein eingelegtes Papier und vermute, endlich die Speisekarte entdeckt zu haben. Aber nein – es ist ein beidseitig bedrucktes Formular, das im Falle eines Tischwechsels auszufüllen ist. Ich gebe also den Grund meines Tischwechsels, die genaue Wegstrecke und die Anzahl der Personen, die ich auf dem Weg zu meiner neuen Futterstelle kontaktiert habe, an. Also Null. Ich nehme drei weitere Tischwechsel vor. Auf diesem Formular-Parkour, dem ich den Schweregrad 6 geben möchte, also 6 von 10, auf diesem Parkour stimme ich der Freigabe zu einer Schufaerklärung missmutig zu. Ohne diese Zustimmung würde ich sofort zu meiner Ausgangsposition zurückkehren müssen. Darüber klärt mich ein Hinweisschild, das auf jedem Tisch fest verklebt ist, auf. Während ich auf Tisch 5 einen Mitgliedsantrag des ortsansässigen Schützenvereins ausfülle, wird mir plötzlich schwindelig.

Angelockt von einem sonnengelben Mangosaft, lande ich schließlich wieder, wie ein müdes Insekt, an Tisch 2, meinem ersten, vorrangig zu behandelnden Ankunftsort. Hier komme ich endlich etwas zur Ruhe. Hier gilt heute, am 11.08.2020, für genau 2 Stunden, laut aktualisierter Hausordnung vom 24.7.2020, mein vorübergehendes Aufenthaltsrecht. Dieses Aufenthaltsrecht ist nicht übertragbar – mit Ausnahme von Personen, die dauerhaft im selben Haushalt leben.

„Habe ich das Richtige serviert?“ will die junge Asiatin wissen.

„Ja sicher, wie immer. Mangosaft. Sie sind sehr aufmerksam, danke, danke.“

Nach meinem Ausflug werden alle Tische mit Desinfektionsmitteln gereinigt, Karten und Formulare erneuert und neu sortiert. Die ausgefüllten Formulare werden eingesammelt und in eine Box vor dem Haupteingang eingeworfen. Nachdem ich ein weiteres Formular, dessen Bestimmung mir mittlerweile gleichgültig ist, ausgefüllt habe, aktiviere ich ungeduldig mein Smartphone und gebe in die hausgemachte App das Menü H31 und Schärfegrad 3 ein. Ich überdenke kurzerhand meine Entscheidung und will den Schärfegrad auf 2 herunterstufen. Hierzu ist allerdings eine Neuanmeldung notwendig. Eine Schwachstelle dieser App, wie mir später der Inhaber des Restaurants ausführlich und etwas verlegen erklärt. Ich stimme den neuen Nutzungsbedingungen der App zu und bekomme nach weniger als 15 Minuten zweimal H31 von einer vermutlich freundlich grinsenden Bedienung an meinen Tisch geliefert.

H31 mit Schärfegrad 3 verzehre ich im Wechsel mit H31 Schärfegrad 2. Ich bin mir sicher, dass ich niemals H31 Schärfegrad 5 erreichen werde. Diese Erkenntnis stimmt mich missmutig. Ich fühle mich durch meine ausgeprägte Hochsensitivität, durch meine Schärfegradintoleranz enttäuscht. Mein Essverhalten ist statisch, diagnostiziere ich, treffe mein Urteil, öffne die Tür zu einem vertrauten Gefühl des Selbstmitleides, reibe verlegen meine Knie, blicke in den schwülen Himmel und weine zielsicher eine Schärfegrad 3 Träne auf diverse, ausgefüllte Formulare.

Langsam verschwimmt mein Name auf einem der Papiere. Unter meinen feuchten Augen zerfließen Tische und Stühle. Scharfe Konturen brechen auf. Sicher geglaubte Abstände scheinen sich aufzulösen und mit dem erneuten Blick in den Himmel fällt plötzlich das ganze Himmelblau über den Platz, die Stadt, fließt in temporären Regenflüssen über die überhitzten Straßen. Wenige Minuten später steigt blauer Dampf auf, weht über Dächer und in die weit geöffneten Fenster, um den Bewohnern die Erinnerung an eine unendliche Weite und ein verloren geglaubtes Gefühl der Freiheit zu schenken.

„Da, der Poet weint, wie jeden Abend“, flüstert Frau Gesterkamp, die etwas spöttisch zu mir herüber blinzelt und mit einem Ellenbogen ihren Mann in die Seite trifft. Der häuslichen Gewalt – die immer häufiger auch im öffentlichen Raum auf ihn einwirkt – überdrüssig, ignoriert Herr Gesterkamp den stechenden Schmerz und schaut nun ebenfalls in den Himmel, so als suche er dort oben nach etwas Bestimmtem, einer Gabel zum Beispiel, die ihm aus der Hand gefallen und nicht wie gewohnt auf den Boden gefallen war, sondern federleicht in den Himmel gestiegen war – zuerst sich langsam drehend an seinem Gesicht vorbei und dann immer schneller sich an den Bäumen orientierend bis zu den Grenzen der Wolken. Mit dem beginnenden Verlust der Schwerkraft und der Aussicht auf einen unendlich großen Raum würde sie auf vielerlei Gegenstände stoßen, die aus einer Laune heraus, physikalische Gesetze zunächst ignoriert und schließlich vollständig aufgegeben hatten – nicht weil sie übernatürliche Kräfte besaßen, nein, allein weil es ihr Traum war.

Zur Stärkung meines Immunsystems werfe ich eine Vitamin-C-Brausetablette in den Mangosaft. Zu schnell schäumt sie auf und lässt den gelben Saft über die bereits aufgeweichten Formulare fließen, die ich zu einer Kugel zusammendrücke und unbeholfen in Richtung Frau Gesterkamp werfe. Diese macht sich sofort daran, die Papiere wieder zu entfalten und alle noch erkennbaren Daten hastig in ihr Smartphone einzutippen.

 Sie können mir nicht weh tun, Frau Gesterkamp! Sie nicht!“, rufe ich ihr spöttisch zu. Ich merke, wie Blut in meinen Kopf schießt und die andauernde Schärfe von H31 Gefäße öffnet, bis etwas blaues Blut aus meiner Nase tropft.

Mit dem stärker werdenden, blauen Regen fallen nun auch immer mehr Gegenstände auf uns nieder: die Gabel von Herrn Gesterkamp, Inges Rubbellos, das sie letzte Woche enttäuscht weggeworfen hatte, sedierende Alltagsmasken, USB-Sticks, klebrige Plastikpfandflaschen und Eintrittskarten, die in den letzen Monaten nicht eingelöst werden konnten, einzelne Socken, die sich noch vor dem ersten Waschgang befreien konnten, Kontoauszüge, einige mit handschriftlichen Vermerken, Plastikradkappen, volle und leere Hundekotbeutel, Kugelschreiber mit zerkratzten Firmenlogos, Haarspangen, leere Pfefferspraydosen, Nagellackentferner, Hüte und einige Werbebeilagen aus lokalen, an Bedeutung verlierenden Tageszeitungen.

Und dann: Eine blaue Tofuwurst schlägt laut auf meinem Teller auf. Nach einigen Sekunden gibt sie einen kurzen Ton von sich. Der Ton ist mir vertraut. Ich kann ihn aber zunächst nicht zuordnen. Ein zweites Mal ertönt das Signal. Jetzt greife ich nach der blauen Tofuwurst und erkenne, dass es sich um mein altes I-Phone handelt. Facebook ist immer noch aktiv und strahlt sein Blau in mein verweintes Gesicht – zwei neue Nachrichten. Ich überfliege sie, wische mit der Hand eine tote Ente vom Tisch und stelle für heute in Geschlossenen Gruppen keine Fragen mehr. Viel weiter hinaus trauen sich nun meine Gedanken nicht mehr.

Bis der Ort mit Absperrbändern gekennzeichnet ist, habe ich mich wieder gesammelt und etwas Vertrauen aus meinem Bauch zugelassen. In Pfeilrichtung beende ich meinen Besuch und trete auf dem Weg zu meinem Hybriden einen alten, hustenden Hund, der sich mit seiner Flexileine an einem der Bäume stranguliert, während sein Besitzer weiter oben im Baum, auf der Suche nach einem Geocach, Äste zerbricht.

   

  

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